Das Weihnachtsoratorium ist doch heilig, unantastbar für jene, die im Glauben aufgewachsen sind, bemerkte eine Premierenbesucherin nach dem ersten Teil von „Jauchzet Frohlocket“ in der Pause. Ja, alljährlich kann das Weihnachtsoratorium in einer der vielfältigen Darbietungen, meist nur die Kantaten I - III, passend zur Jahreszeit und emotionalen Bedürftigkeit hörend oder nach Wunsch als Mitmachkonzert konsumiert werden. Ja, die Bachschen Weisen haben Überirdisches, bringen seit Jahrhunderten dem Hörer die Botschaft von Heil, Erlösung, dem Sinn der Gemeinschaft und Familie, vielleicht auch die Geborgenheit einer vergangenen Kindheit alljährlich erneut nah und in Erinnerung, was oft übers Jahr in Vergessenheit gerät.
An Stelle des erwarteten Bachschen Eingangschores ertönt zu Beginn ein höllischer Wetterzauber bajuwarischer Hexen, Abkömmlinge der alpenländischen Perchten aus Carl Orffs 1960 in Stuttgart uraufgeführtem „Ludus de Nato infante mirificus (Wundersames Spiel von der Geburt des Kindes)“, die die Geburt des Weltenerlösers mit allen Mitteln verhindern wollen. Inszeniert auf zwei Ebenen wird schnell klar, dass der Abend keine klare Geschichte erzählt, keiner strukturierten Handlung folgt, vielmehr die Gegensätze menschlichen Daseins und Soseins beleuchtet, Ying / Yang, Dunkel / Licht, Gut / Böse, freundlich / grässlich, gutherzig / dem schnöden Mammon verfallen, alt / jung, gastfreundlich / menschenhassend. Auf der Bühne entwickelt sich eine spartenübergreifende Darstellung von Instrumentalisten, Chorsängern, Solisten, Puppenspielern und Darstellern, die ein vielschichtiges Kaleidoskop (Zitat Michael Schulz) entfalten, welches im Kern die Frage stellt, was uns Menschen vereint. Ohne leichte MitnachhausenehmBotschaft, ohne einfache (Er-)Lösung, aber mit viel Raum für eigene Wahrnehmungen und Assoziationen. Was bedeutet, erlöst werden wie in der Weihnachtsgeschichte den Menschen hoffnungsvoll angekündigt, deren Botschaft durch Profit und konsumorientierte Kräfte längst entwertet ist. Wer ist der Messias für den heutigen Bürger (die Genderfrage der Formulierung erscheint an dieser Stelle obsolet)??
Erlösend wirkt der nach dem Hexentrommel endlich vorgetragene Eingangschor „Jauchzet Frohlocket“, Bekanntes, Vertrautes, musikalisch Heimatliches, da sind wir in der Hörgewohnheit wieder zu Hause. Kurzfristig nimmt die Geschichte den bekannten Verlauf: das unbekannte, schwangere Paar ist auf der Herbergssuche, wird vom Evangelisten dann aber in eine reiche, illustre Gesellschaft eingeladen, die einem kirchengeschichtlichen Flashback zu Papst Bonifazius VIII (Gegenspieler Dantes) mit Text von Dario Fo wie einem Spektakel lauscht, ein Missbrauch der weihnachtlichen Freudenbotschaft in der menschgemachten Kirchengeschichte sei hier assoziativ erlaubt, ebenso wie der kommerzielle.
Das menschliche Geschlecht wird in diesem ersten Teil auch mit zwei von Hanns Eisler vertonten Brechtliedern beschrieben: Das Lied von der Moldau und das Lied einer proletarischen Mutter. Hanns Eislers politisches Engagement führte als Schüler Schönbergs seinerzeit zu einer kompositorischen Neuorientierung: Seine Massenlieder, Songs, Theater- und Filmmusiken zielten darauf, eine Breitenwirkung zu entfalten. Trotzdem bleibt der Hintergrund des Avantgardisten unüberhörbar. Die vertonten Brechtschen Texte zeugen von dessen Überzeugung, dass die Unabhängigkeit von Kunst und Geist unabdingbar ist - und zwar von allen politischen Systemen.
Galerie JAUCHZET, FROHLOCKET!
Gegen Machtmissbrauch und menschliche Dummheit steht zeitlich vor der Bachschen, heilenden Weltmusik der tief in der Unerschütterlichkeit des Glaubens verwurzelte Gesang „The deers Cry,“ der auf eine Legende und Gebetstext von St. Patrick, dem irischen Mönch und Verkünder des christlichen Glaubens im 5.Jahrhundert zurückgeht und Grundlage der gleichnamigen Komposition von Arvo Pärt (2007) ist. Eben diese Komposition beschließt klanglich, gesanglich, warm, bewegend, versöhnlich und fanatastisch ausgeführt von Tobias Glagau, Almuth Herbst, Bele Kumberger, Philipp Kranjc, Dongmin Lee, Mercy Malieloa, Urban Malmberg, Petro Ostapenko, Adam Temple-Smith und Etienne Walch den ersten Teil des Abends (Lorica of St Patrick: Christ with me, Christ before me, Christ behind me, Christ in me, Christ beneath me, Christ above me, Christ on my right, Christ on my left, Christ when I lie down, Christ when I sit down, Christ when I arise, Christ in the heart of every man who thinks of me, Christ in the mouth of everyone who speaks of me, Christ in every eye that sees me, Christ in every ear that hears me, Christ with me. Ergriffen geht das Publikum in die Pause.
Im zweiten Teil wird auf „Unser Mund sei voll Lachens“ (BWV 110), der in Leipzig am ersten Weihnachtstag 1725 uraufgeführten Kantate zugegriffen, gefolgt von einem dramaturgischen Kniff einzelne Arien auf verschiedene Solisten aufzuteilen, so in der Tenorarie „Ich will nur Dir zu Ehren leben” (aus der vierten Kantate des Weihnachtsoratoriums), in der die Tenöre Tobias Glagau und Adam Temple-Smith im Wechsel wie im Wettstreit gegeneinander singen (und das durchaus eindrucksvoll) analog den beiden Violinen, inneren miteinander ringenden Stimmen gleich.
Der musikalische Anteil dieser bisweilen herausfordernden Inszenierung von Schauspiel, Gesang und Puppentheater überzeugt insgesamt bei allen Beteiligten, insbesondere jedoch bei der unprätentiös-zuverlässigen Almuth Herbst und den herausragenden Solisten Mercy Malieloa (Sopran) und dem Countertenor Etienne Walch, zwei Mitgliedern des Opernstudios Nordrhein-Westfalen.
Kritiker in Erwartung einer konzertanten Aufführung des Weihnachtsoratoriums mögen vorauseilende Trompeten und teils wankende Tempi bemängeln. Doch dies wurde im tieferen Sinne der weihnachtlichen Botschaft, dass wir das Menschsein nur miteinander bewältigen können als Ganzes zusammengefügt und die Situation gemeistert.
Eine gelungene Inszenierung im tiefsten Sinne des theatherlichen Auftrages, Anlass zu Reflexion und Kulturkonsumverhalten jedes einzelnen Besuchers in toleranter Offenheit der individuellen Auffassungsmöglichkeiten dieses besonderen Abends, welchen das Publikum mit standing ovations feierte und honorierte.
„Man geht dann doch getröstet heim.“ sagte die Besucherin nach dem Schlusschoral Nr. 64 und tatsächlich umfasst dieser die immerwährende Hoffnung für die Menschheit.
Nun seid ihr wohl gerochen
an
eurer Feinde Schar,
denn Christus hat zerbrochen,
was euch zuwider war.
Tod, Teufel, Sünd und Hölle
sind ganz und gar geschwächt;
bei Gott hat seine Stelle
das menschliche Geschlecht.
Die nächsten Vorstellungen eines erlebnswerten Abends sind am 11. und 17. Dezember 2021 (jeweils um 19:30 Uhr), am 25. Dezember 2021 (18 Uhr) und am 30. Dezember 2021 (19:30 Uhr) sowie am 2. Januar 2022 (18 Uhr), 8. Januar 2022 (19.30 Uhr), 23. und 30. Januar 2022 (jeweils um 18 Uhr), Karten unter musiktheater-im-revier.de oder Tel. 0209 – 4097 200.
Mit dem MiR Opernensemble, dem MiR Puppentheater, dem MiR Opernchor und der Neuen Philharmonie Westfalen
musiktheater-im-revier.de/de/performance/2021-22/jauchzet-frohlocket
Anaphora